… dem halte auch die andere [Wange] hin…

 

Vor drei Jahren habe ich begonnen, die japanische Kampfkunst Aikido zu erlernen.

Der Wunsch, Kampfsport zu betreiben, schlummerte schon viele Jahre in mir, und im März 2016 habe ich dann den ersten Schritt auf die Tatamis eines Strasbourger Dojos gewagt.

In meinem 40. Lebensjahr habe ich mich also in die Schule des 8. Dan Paul Muller begeben, um meine zwischenzeitlich etwas eingerosteten Knochen, Muskeln und Gelenke mit mir völlig unbekannten Techniken auf Trab zu bringen.

Paul Muller ist ein sowohl national als auch international engagierter und anerkannter Aikido Lehrer, der seit den Anfängen von Aikido in Frankreich in den frühen 1960ern mit dabei ist. Er hat bei japanischen Meistern gelernt und kann uns Schülern, den Aikidokas, viel von der ursprünglichen Kampfkunst lehren.

Aikido, so ist es häufig zu lesen, zum Beispiel bei Wikipedia, sei eine “betont defensive moderne japanische Kampfkunst”.

Dem widerspreche ich gerne, denn alle Kampfsportarten dienen in der Regel der Verteidigung.

Zudem verwenden wir häufig Schläge ins Gesicht, in die Seite, Fußtritte oder auch Griffe und Schläge in den Nackenbereich. Natürlich deuten wir diese im Training nur an, um den Angreifer auf Sicherheistabstand zu halten, sodass wir die Technik ausführen und den Angreifer zu Boden bringen können.

Jedoch ist es wohl wahr, dass wir Aikidokas friedliebende Menschen sind.

So ist Aikido für mich unter anderem die Antwort im Sinne der Empfehlung aus dem Matthäus Evangelium 5, 39:

… wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.

Die Empfehlung Jesu bedeutet nämlich nicht, sich einfach so misshandeln zu lassen, sondern durch das Hinhalten der anderen Wange dem Gegner sein Fehlverhalten aufzuzeigen.

Um es mit den Worten des Aikido Gründers auszudrücken (aus seinem Lehrbuch “Budo”, S. 40):

Wahres Budo dient jedoch nicht einfach dazu, den Gegner zu zerstören; es ist viel besser, einen Angreifer geistig zu besiegen [indem man ihn die Torheit seines Handelns erkennen lässt], so dass er seinen Angriff gerne aufgibt.

Aus dieser Philosophie und Kampfkunst lassen sich Handlungs- und Verhaltensempfehlungen, also eine klare, martialische Haltung, ableiten, die für einen generellen Umgang mit Menschen geeignet ist – besonders in eher “feindlich” konnotierten Umgebungen wie der Arbeitswelt.

Daher werde ich in diesem Beitrag auf Folgendes näher eingehen:

Was ist Aikido? Definition und Ablauf der Techniken, Omote und Ura

 

Die Kampfsportart Aikido wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts vom Japaner Morihei Ueshiba entwickelt. Sie baut auf verschiedenen Budo-Disziplinen auf und ist, so wie Morihei es einmal selbst sagte, “ein von den Göttern inspirierter Weg zur Wahrheit, Güte und Schönheit.”

aikido-schriftzeichenDie japanischen Schriftzeichen für Aikido bedeuten: Harmonie, Energie und Weg, im Prinzip also der (Lebens-) Weg der Harmonie und Energie.

Der Geist dieser Kampfkunst besteht darin, die Energie des Angreifers anzunehmen, sie umzuleiten, und den Feind mit seiner eigenen (negativen) Energie zu Fall zu bringen.

Die verschiedenen Techniken laufen stets folgendermaßen ab:

  • aus der Angriffslinie heraustreten
  • den Gegner aus dem Gleichgewicht bringen
  • die geeignete Technik anwenden, und dabei die Kraft oder Energie des Gegners auf ihn selbst umleiten
  • den Gegner zu Boden bringen durch eine Wurftechnik oder durch Immobiliseren
  • sich in Sicherheit bringen bzw. den nächsten Angriff abwehren

Bei allen Techniken gilt es, mit so wenig (Kraft-) Aufwand wie möglich und durch Präzision in der Ausführung vorzugehen.

Wille und Entschlossenheit sind entscheidend – wie immer im Leben.

Das ist in der Realität allerdings viel leichter gesagt als getan!

Oftmals, so sagen es mir meine Übungspartner immer wieder, ist es zielgerichteter, einem Angriff nicht mit Anspannung sondern mit bewusster Entspannung (Loslassen) zu begegnen. Denn durch Anspannung gebe ich dem Angreifer Energie, die er gegen mich verwenden kann.

Ein scheinbares Paradox, das in unserer heutigen, auf Leistung und Stärke getrimmten Welt, zu einer lebensverändernden Wahrheit für alle heranreifen könnte.

Für die verschiedenen Techniken gibt es zudem zwei Ausführungsvarianten: Omote und Ura.

Während Omote den direkteren Zugriff / Herantreten auf den Gegner hin bedeutet, ist Ura ein eher indirektes Verhalten, indem der Anwender der Technik (“Tori“) um den Angreifer herumgeht, um ihn zu Fall zu bringen.

Wie können diese Techniken, die Aikido Philosophie und die beiden Ausführungsvarianten im Arbeitsleben, in der Kandidatenansprache, im Bewerbungsgespräch und im generellen Umgang miteinander im Team angewendet werden?

Zunächst noch ein wenig (praktische) Theorie:

Aikido Recruiting Theorie: Haltung, Geduld, Grenzen setzen und akzeptieren, Respekt

 

Letzten Endes geht alles im Leben davon aus, mit welcher Haltung und Einstellung ich einer Situation begegne.

Es wird immer Momente und Situationen geben, in denen wir mal “gut” und mal “schlecht” reagieren. Manchmal lässt sich das eine vom anderen nur schwer unterscheiden, und Vieles hängt von der Tagesform eines jeden ab.

Wer sich näher mit Aikido befasst – zumindest geht es mir so, und wahrscheinlich trifft das auch für andere (Kampf-) Sportarten zu, wobei es mir bei Aikido besonders auffällt – stellt bald fest, dass es notwendig ist, viel Geduld aufzubringen.

Viele der Techniken sehen eigentlich recht einfach nachzuahmen aus. Doch wenn man sie dann nachmachen möchte, geht gar nichts mehr.

Monatelang habe ich in den Trainingsstunden nur Bahnhof verstanden. Ich musste mir noch und nöcher zeigen lassen, wie eine Bewegung auszuführen ist. Immer wieder fand jemand, dass dieser oder jener Handgriff, Abstand, Armhaltung, Körpereinsatz noch zu verbessern und zu verfeinern wäre.

Wenn ich am Verzweifeln war, sagten mir jedoch diejenigen, die weiter waren als ich: “Das ist normal, das kommt mit der Zeit. Wir waren alle mal Anfänger, und wir haben es bis heute noch nicht drauf!”

Ja, das ist für mich wahrer Kampfsport-Geist: Geduld, Demut, Einfachheit, kein falscher Stolz, das Gelernte weiter geben.

Im Aikido lernen wir darüber hinaus unsere Grenzen sehr gut kennen: Jeder kann Aikido praktizieren.

Egal, wie alt er oder sie ist, mit welchen physischen Mängeln oder Gebrechen man im Dojo zum Training erscheint: alles ist möglich.

Es gibt keinen Wettkampf, kein Kräfte messen und keinen Gewinner (auch wenn uns das trotzdem nicht davon abhält, auch mal das überdimensionierte Ego mit auf die Tatamis zu nehmen, aber wir sind ja alle nur Menschen).

Der Respekt zählt, und wenn man an einem Tag diese oder eine andere Übung nicht machen kann oder will, ist das völlig ok.

Aikido Recruiting Praxis: Omote und Ura in der Kandidatenansprache und in der Kommunikation

 

… du musst die Lücke, das Fehlende in der Haltung Deines Gegners spüren und an dieser Stelle die Technik anwenden. Derart eine Schwäche des Gegners zu spüren, das ist Budo.”

Morihei Ueshiba, Budo, S. 40

Wir haben alle unsere Stärken, Schwächen, Fehler, Lücken im Lebenslauf, Diplome und Weiterbildungen oder Abbrüche, ….

Die Frage ist, wie wir diese im Berufsleben einsetzen und wie wir damit umgehen.

Hier zwei Beispiele für das Recruiting:

Ein Recruiter, Talent Acquisition Manager oder Sourcer kann bei einem Sondierungsgespräch mit einem Kandidaten gezielt und provozierend Fragen stellen, versuchen, durch bestimmte Techniken das Wissen des Talents abzufragen oder auch die “Stress-Resistenz” testen. Passt der Bewerber in unser Team, in unsere Unternehmenskultur?

Aber muss das sein? Muss man Bewerber aus dem Gleichgewicht bringen, um festzustellen, ob er oder sie geeignet ist?

Das kommt einem Angriff nahe, und wieso sollte ich einen eventuell zukünftigen Mitarbeiter im Auswahlgespräch bewusst angreifen?

Wäre es nicht sinnvoll, hier bewusst und von Anfang an auf Gemeinsamkeiten einzugehen und  zu besprechen, auf welche Weise die Mitarbeit des Kandidaten die Firma nach vorne bringt?

Die könnte beispielsweise dadurch geschehen, dass man (Omote – direkt) den Bewerber auf freundliche Art bittet zu beschreiben, wie er/sie das Unternehmen bei seinem Vorhaben von A nach B zu gelangen, unterstützen kann.

In der Variante Ura (indirekt) könnte ein Recruiter ein geplantes Projekt präsentieren, das der neue Mitarbeiter mit bearbeiten wird. Durch bewusst gesetzte Sprechpausen sollte er ihm/ihr es dann ermöglichen, sein/ihr Können und Kenntnisse zu benennen.

Das Gleiche gilt für eine gute Direktansprache, bei der Sourcer vor allem auf die genannten “Skills” von Talenten eingehen sollten, anstatt zu schreiben, dass das Unternehmen X eine für den Kandidaten interessante Stelle hätte. Ein wenig Vorarbeit ist hier immer lohnenswert.

Fazit: Mehr Mit- und Für- als Gegeneinander

 

Ja, die Arbeitswelt ist bunt.

So lassen es viele Stellenangebote, Social Media Postings, Broschüren, Employer Branding Kampagnen, Personalmarketing- oder Team Aktivitäten erscheinen.

Heutzutage liegt häufig der Akzent auf all dem, was schön und bunt im Job ist.

Die Arbeitswelt ist allerdings auch schwarz und weiß und grau.

Jeder weiß, dass es hinter den Kulissen häufig anders zugeht als es die Fassade zeigt.

Dort gibt es viel Leid, (verbale) Gewalt und andere unschöne Dinge.

Das ist so, das gehört mit zum Leben.

Wichtig ist, trotz allem, wenigstens nach dem Guten und Schönen streben zu wollen, auch wenn uns das nie vollkommen gelingen wird.

Ich denke, dass Aikido als Kampfsport und als generelle Lebensweise viel Potenzial für menschliches Zusammensein hat:

Aikido als Philosophie ist gewaltfreie Kommunikation, oder auch das aktive Hinhalten der anderen Wange mit der notwendigen Technik im Köcher, um einen dennoch gewalttätigen Feind im Notfall abwehren zu können.

Wie sieht es mit Ihrem Aikido Recruiting aus? Sind Sie eher der Omote– oder Ura-Typ?

Jetzt Antworten

 

Nachtrag – Video Interview

 

Im Nachgang zu diesem Blogbeitrag hat mich Yves Scheffold von der hrconnectum GmbH kontaktiert, um zu genau den hier beschriebenen Inhalten ein Video Interview zu machen.

Dabei haben wir ebenfalls einige Aufnahmen in meinem Strasbourger Aikido Verein gemacht. Herzlichen Dank für das Interview und ein Riesen-Dankeschön an Paul Muller – zwischenzeitlich 8. Dan Aikido – für die Aufnahmen.

Hier das Interview:

 

So möchte ich mit einem Gedicht über den Weg aus dem Lehrbuch “Budo” Ueshibas (S. 34) und mit dem Image Video des französischen Aikido Verbandes diesen Beitrag abschließen:

Der göttliche Wille.

der Körper und Geist durchdringt,

ist Aiki – schleife dieses Schwert

und verbreite seinen Glanz

in dieser Welt.

 

 

Bild von rieslingtrocken auf Pixabay